Vor 75 Jahren:
Blutige Ausschreitungen im "Roten Lohberg"
- von Dr. Inge Litschke
Anfang dieses Jahrhunderts wurde am Fuße des Oberlohbergs in der dünn besiedelten Hiesfelder Bauernschaft Unterlohberg - heute Dinslaken- Lohberg - die Zeche Lohberg abgeteuft. (Das Bild zeigt die Zeche Lohberg 1910 während des Abteufens (noch ohne Fördergerüst).) In Scharen strömten dem neu entstehenden Bergwerk Arbeiter zu, die hier Arbeit, Brot und eine neue Heimat für sich und ihre Familien zu finden hofften. Die Zuwanderer stammten vorwiegend aus den früheren preußischen Ostprovinzen Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien. Aber auch vom Niederrhein, aus dem angrenzenden Westfalen, von der Saar und Mosel, aus dem Hannoverschen, aus Hessen, Sachsen und Bayern kamen Arbeiter mit ihren Familien nach Lohberg. Viele Ausländer suchten ebenfalls auf dem neuen Bergwerk Arbeit; hier sind vor allem polnische und tschechische Zuwanderer zu nennen, aber auch Österreicher, Jugoslawen, Holländer und Ungarn. Aufgrund unterschiedlicher Herkunft, Traditionen, Kenntnisse, Bildung, Religion, politischer Einstellung, persönlicher Interessen und Neigungen kam so innerhalb weniger Jahre in Lohberg eine sehr heterogene Bevölkerung zusammen. Für deren Unterbringung wurde in unmittelbarer Nähe zur Zeche die Bergarbeiterkolonie Lohberg angelegt. Diese Kolonie entstand nach einem wohldurchdachten Plan, der deutlich die Einflüsse der Gartenstadtbewegung erkennen läßt und eine eigene infrastrukturelle Ausstattung der neuen Siedlung mit Schulen, Kindergärten, Kirchen, Arztpraxis, Polizeistation, Poststelle, Kasino, Wirtshäusern und Geschäften einbezog.
Zur Vorgeschichte der Ereignisse vom 8. November 1923
Vom Ende des ersten Weltkrieges an war das Leben in der Bergarbeiterkolonie Dinslaken-Lohberg immer wieder schwersten Belastungen ausgesetzt. In seiner Geschichte der evangelischen Kirchengemeinde Lohberg spricht der damalige evangelische Pfarrer SCHMIDT im Jahre 1926 von den “jahrelangen Wirren und Leiden unserer Kolonie" (1), die 1918 mit der Novemberrevolution begannen. Über Jahre wurde die Kolonie von Unruhen, Streiks und Extremismus erschüttert. Es kam zu blutigen Exzessen, und zwar sowohl auf Seiten der Arbeiterschaft als auch auf Seiten ihrer Gegner. Arbeitslosigkeit, Not und Elend hinterließen tiefe Spuren (2). Viele Lohberger erhofften sich vom Kommunismus eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und wandten sich der kommunistisch-spartakistischen Partei zu, die eine lebhafte Propaganda betrieb und auch vor Drohungen nicht zurückschreckte (3). Lohberg entwickelte sich damals zu einer "Hochburg des Kommunismus” (4), zum "Roten Lohberg" (5).
In den Märzunruhen des Jahres 1920 wurde Lohberg zum "Ausgangspunkt bitterster Kämpfe" (6) und zum Tatort schrecklicher Gewalttaten: Viele Lohberger verloren als Kämpfer in der "Roten Armee" ihr Leben; (7) der Direktor der Zeche Lohberg wurde auf grausame Weise ermordet; mit wahllosen standrechtlichen Erschießungen nahmen Reichswehr und Sicherheitspolizei blutige Rache an der Lohberger Bevölkerung (8). Während diese schrecklichen Geschehnisse sowohl in der Erinnerung der Bevölkerung lebendig geblieben sind als auch in unterschiedlichen Veröffentlichungen beschrieben bzw. erwähnt werden (9), sind die blutigen Ausschreitungen des Jahres 1923, von denen im folgenden die Rede sein soll, weitgehend in Vergessenheit geraten.
Auswirkungen der Besetzung des Ruhrgebiets
Die Lohberger Bevölkerung hat den Zorn und den Schmerz über die vielen Gefallenen und standrechtlich Erschossenen der Märzunruhen über lange Jahre nicht verwunden (10) Immer wieder wurden, organisiert von der KPD, Gedenkmärsche zu den Massengräbern in Hünxe und Bruckhausen unternommen, in denen gefallene Rotgardisten verscharrt worden waren (11). Es blieb nicht aus, daß die Agitation der Kommunisten immer wieder Nahrung an der furchtbaren Erinnerung fand. Dennoch trat, wie Pfarrer Schmidt schreibt, (12) "unter schweren Zuckungen ... allmählich in Lohberg die Ruhe wieder ein, die des öfteren durch Streiks gestört wurde. In den übrigen Monaten des Jahres 1920 und auch 1921 und 1922 wurden zahlreiche Umzüge veranstaltet. Nach dem Rathenau-Mord (13) schien die Lage wieder sehr bedrohlich, aber es kam nur zu wenigen Ausschreitungen.”'
Blutige Exzesse mit 3 Todesopfern gab es dann allerdings noch einmal im Jahre 1923 während der Zeit der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen. Frankreich und Belgien hatten geringe Rückstände Deutschlands bei der Erfüllung der Reparationsforderungen des Versailler Vertrages zum Anlaß genommen, ihr Militär im Januar 1923 ins Ruhrgebiet einmarschieren zu lassen (14). Am 11. Januar wurden auch die BelgbesaStadt Dinslaken und die Zeche Lohberg von belgischen Truppen besetzt (15). (Das nebenstehende Bild zeigt belgische Soldaten bei der Einweihung des Freibades in Dinslaken - Hiesfeld 1924.) Der Aufruf der Reichsregierung zum passiven Widerstand (16) gegen die Besatzung, d.h. zur Stillegung von Zechen, Fabriken und Eisenbahnen, wurde von den Industriebetrieben des Ruhrgebiets weitgehend befolgt. Auch die Verwaltung und Belegschaft der Schachtanlage Lohberg schlossen sich diesem sog. "Ruhrkampf" an (17). Zwar unterstützte die Regierung das arbeitslose und darbende Ruhrgebiet mit Geld und Lebensmitteln. Aber dennoch machte sich in vielen Lohberger Haushalten bald bitterste Not bemerkbar. In der Schulchronik der Lohberger Marienschule heißt es dazu: "Infolge der Erwerbslosigkeit entstand große Not. Die Stadtverwaltung ließ deshalb im Stadtgebiet 4 Volksküchen einrichten. Die Lohberger Volksküche brachte man im Vorraum der Haushaltungsschule unserer Schule unter." (18)
Aus wirtschaftlichen Gründen konnte die Reichsregierung den passiven Widerstand nicht unbegrenzt durchhalten. Die Überbeanspruchung der finanziellen Leistungsfähigkeit durch Arbeitslosenunterstützung, Industriesubventionen und Kohleeinfuhr führte dazu, daß die Mark ins Bodenlose sank. Der Widerstand wurde offiziell am 26. September 1923 für beendet erklärt (19) . Auf der Zeche Lohberg wurde die Arbeit Ende Oktober 1923 auf der Höhe der Inflation wieder aufgenommen (20).
Die Bergleute verdienten jetzt zwar wieder, konnten für ihr mühsam erarbeitetes Geld aber nicht einmal die notwendigsten Grundnahrungsmittel kaufen, da die Preise mit wachsender Geschwindigkeit ins Unermeßliche stiegen. Im Oktober 1923 stellte der Wochenlohn eines qualifizierten Facharbeiters den Gegenwert von einem Zentner Kartoffeln dar. (21)
Keine Hausbrandkohle
Not und Elend in den Arbeiterhaushalten wurden noch dadurch vergrößert, daß den Bergleuten aufgrund von Anordnungen der Besatzungsmächte die ihnen zustehende Deputatkohle verweigert wurde. (22) Das bedeutete, daß zu Beginn der kalten Jahreszeit die Wohnungen, in denen es viele kleine Kinder gab, nicht beheizt werden konnten. Außerdem war die Herstellung warmer Mahlzeiten kaum möglich; denn in fast allen Haushalten war für die Nahrungszubereitung nur ein Kohlenherd vorhanden. Dazu schreibt Pfarrer Schmidt. "Geradezu ein Wahnsinn war es, daß den Bergleuten noch nicht einmal ihre Deputatkohlen von der Besatzungsbehörde zugestanden wurden. Innerhalb der Zechenmauern lag ein gewaltiger Berg Kohlen, der einfach infolge der Lagerung umkam. Andererseits wurde die Zechenverwaltung haftbar gemacht für den Lagerbestand.” (23)
In ihrer Not machte sich am Morgen des 8. November 1923 eine große Menge von Lohberger Bergleuten, Frauen und Kindern mit Karren und Handwagen auf den Weg, um Kohlen von den von der Besatzungsbehörde beschlagnahmten Lagerbeständen auf dem Werksgelände zu holen. (24) Die Leute waren in besondererem Maße emotionalisiert, da viele von ihnen am Tage vorher an einem von der KPD organisierten Demonstrationszug zu den Massengräbern der Märzgefallenen von 1920 teilgenommen hatten. Es handelte sich bei diesem 7. November um den Jahrestag der russischen Oktoberrevolution; denn nach Umstellung des bis Oktober 1923 in Rußland geltenden Julianischen Kalenders (alter Stil) auf den Gregorianischen Kalender (neuer Stil) ergab sich als neues Datum der Revolution der 7./ 8. November. Einem Bericht in der Hamborner Volkszeitung zufolge soll bei dieser Kundgebung an den Massengräbern der Plan zu einem Sturm auf die Zeche gefaßt worden sein (25), gewissermaßen also zu einer kleinen "Revolution" im lokalen Bereich.
Der Sturm auf die Zeche am 8. November 1923
Während die Betriebsleitung an den vorausgegangenen Tagen kleinere Kohlendiebstähle stillschweigend geduldet hatte, war an diesem Tag das Zechentor, das sonst geöffnet gewesen war, verschlossen. Zechenbeamte (26) versuchten, die Kohlen verlangende Menge am Betreten des Werksgeländes zu hindern. Das Tor wurde jedoch mit Gewalt eingedrückt, und die auf das Gelände drängenden Menschen begannen mit der Kohlenentnahme. Gegen 14 Uhr erschien die belgische Besatzung und unterband die Abfuhr. Nach dem Abrücken der Belgier übernahmen wieder Zechenbeamte die Überwachung des Werkstores. Sie wurden jedoch nach einem Wortwechsel umzingelt und geschlagen, so daß sie der Übermacht weichen und die Flucht antreten mußten. (27) Die Menge, verstärkt durch Angehörige proletarischer Hundertschaften (28), die nicht zur Belegschaft gehörten, nahm mit Knüppeln, Zaunlatten und Stangen die Verfolgung auf und verletzte mehrere Beamte schwer. Polizisten aus Lohberg und aus Dinslaken sowie der in Lohberg wohnende, aber zur Gendarmerie Bruckhausen gehörende Oberlandjägermeister Ernst Klaas trafen zur Unterstützung der Zechenbeamten und zum Schutz der Werksanlagen ein. (29)
Auf der Verbindungsbrücke zwischen Schacht 1 und Schacht 2 kam es zu einem folgenschweren Zusammentreffen zwischen den Randalierern und 2 Polizeibeamten, die von der Menge abgedrängt worden waren und verfolgt wurden. Dabei erschoß, einem Bericht im Duisburger Generalanzeiger vom 29. 4. 1924 zufolge, Oberlandjägermeister Ernst Klaas den 20jährigen Lohberger Bergmann Alex Szymkowiak. Nach einer anderen Version gab Klaas lediglich Warnschüsse ab und traf dabei Szymkowiak versehentlich. (30) Klaas wurde nach den tödlichen Schüssen von der rasenden Menge erschlagen und anschließend von der etwa 20 m hohen Verbindungsbrücke in einen unten stehenden Eisenbahnwagen gestürzt. Der zweite Polizist, Polizei-Betriebsassistent Friedrich Fischer, floh vor der entrüsteten Masse auf das Zechengelände. Er wurde dort ebenfalls erschlagen und dann in einen betonierten Wassergraben geworfen. (Das Bild zeigt die Lohberger Polizei im Jahre 1923. Polizei-Betriebsassistent Friedrich Fischer sitzt in der unteren Reihe ganz rechts.) Aus der Waffe von Fischer war, wie später festgestellt wurde, nicht geschossen worden. (31) Erst am Abend konnte mit Hilfe der Belgier und eines verstärkten Polizeiaufgebots auf der Zeche die Ruhe wieder hergestellt werden. (32) Beim Abrücken der Polizei wurde das Fehlen von Klaas und Fischer zunächst nicht bemerkt. Erst als die Leichen von Angehörigen der kommunistischen Arbeiter-Samariterkolonne vom Werksgelände getragen wurden, sah man mit Entsetzen, was geschehen war. (33) Beide Leichen waren bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und entstellt. (34)
Anarchie
Aufgrund der beschriebenen Vorfälle wurde der Betrieb auf der Schachtanlage Lohberg am 9. November 1923 eingestellt. An die Belegschaft erging durch Aushang folgende Mitteilung: (35)
“Bekanntmachung”
Die Vorkommnisse des gestrigen Tages machen eine weitere Fortführung des Betriebes Lohberg unmöglich, so daß der Betrieb ab heute bis auf weiters geschlossen wird. Für die gesamte Belegschaft ist hiermit das Arbeitsverhältnis beendet. Das Betreten des Zechenplatzes ab 5 Uhr heute nachmittag ist verboten und nur denjenigen Personen gestattet, die mit einem besonderen Ausweis versehen sind. Zuwiderhandelnde machen sich des Hausfriedens- bzw. Landfriedensbruches schuldig. Bei weiteren Vorkommnissen wird auch die Inbetriebhaltung der Pumpen und eine Wiederaufnahme des Betriebes zur Unmöglichkeit. Wir bitten alle ordnungsliebenden Arbeiter dafür zu sorgen, daß Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten bleiben. Über die Auszahlung der Erwerbslosenfürsorge schweben Verhandlungen mit den Gemeinden; weitere Mitteilungen erfolgen durch Anschlag an den öffentlichen Anschlagstellen.
Die Grubenverwaltung.
In den auf die Gewalttaten folgenden Tagen und Wochen gewannen die kommunistischen Hundertschaften erheblichen Einfluß in Lohberg und Wehofen und auf einigen Nachbarzechen. In der Hamborner Volkszeitung heißt es dazu: "Mangels jeglichen Schutzes herrscht im Gebiet der Zeche Lohberg nach wie vor völlige Anarchie. Weder Werksbeamte noch Polizeibeamte wagen sich in die Siedlung hinein. Selbst der Erste Staatsanwalt ist nicht in der Lage, zur Ausführung von Verhaftungsbefehlen zur Fassung der Mörder der erschlagenen Polizeibeamten Polizeiorgane zu finden, die es wagen, in der Kolonie den Befehl auszuführen. Die kommunistischen Hundertschaften führen das Regiment im gesamten Gebiet.” (36)
Hochburg der Hundertschaften war in Lohberg wie in den Märzunruhen des Jahres 1920 das Ledigenheim, "wo ganze Berge von Stöcken, Spiralfedern und Gummischläuchen lagerten.” (37) Die Aktivitäten der Bewohner des Ledigenheims in den Lohberger Unruhen ab 1918/19 vermitteln den Eindruck, daß sich im Ledigenheim ein jugendliches Unruhepotential angesammelt hatte, das der Agitation und den Verheißungen anarchistischer und extremistischer Gruppierungen eher zugänglich war als der in die Familie eingebundene erwachsene und jugendliche Bergarbeiter. (Das Bild zeigt das Ledigenheim in einem aktuellen Foto von 2000.)
An den auf die Mordtaten folgenden Tagen fanden wieder Plünderungen der Kohlenvorräte auf der Schachtanlage statt. Am 12. November, dem Tag der Beerdigung des erschossenen Arbeiters, wurden mehrere Tausend Tonnen Kohlen auf dem Zechenplatz geplündert. Die Beerdigung selbst wurde zu einer gewaltigen Demonstration. Sie wurde von mehreren Musikkapellen begleitet. Unter Vorantragen von 28 roten Fahnen nahmen etwa 5000 Sympathisanten aus der Umgebung Lohbergs daran teil. (38)
Nach weiteren Plünderungen traf am Abend des 12. 11. ein belgisches Besatzungskommando zum Schutz der beschlagnahmten Kohlenbestände auf der Schachtanlage ein. (39)
Auswirkungen der Morde auf die Familien der Getöteten (40)
In der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Dinslaken vom 22. 11. 1923 betonte der Vorsitzende, daß die Polizeibeamten in Ausübung ihres Dienstes getötet worden seien, "wodurch namenloses Elend über die Familien hereingebrochen" sei. (41) Beide Beamte hatten in der Kolonie gewohnt und waren vor allem beim nichtkommunistischen Teil der Bevölkerung beliebt gewesen. Nach den Ereignissen des 8. Novembers 1923 empfanden die Hinterbliebenen das enge Zusammenleben mit den Familien der Täter und den Mitläufern als äußerst belastend. (Links: Auszug aus den Akten des Standesamtes Dinslaken vom 8. November 1923. Kommentar des Beamten: “Zu 1 und 2: Vom roten Mob ermordet beim Schutz der Zeche Lohberg gegen Kohlenplünderung.” Zu 3: “In Abwehr eines Angriffs auf die Polizei von dieser bei der Kohlenplünderung erschossen.”)
Der bei seinem Tod 45-jährige Ernst Klaas hinterließ seine Ehefrau mit einer sechsjährigen Tochter und einem Sohn, der sich gerade auf das Abitur vorbereitete. Die Familie stammte aus der Aachener Gegend und zog bald nach der Ermordung des Vaters dorthin zurück.
Friedrich Fischer war Ostpreuße und mit einer Frau aus Gelsenkirchen verheiratet. Er hatte zunächst als Schachthauer beim Abteufen der Lohberger Schächte mitgearbeitet. Nachdem er sich als Soldat im Ersten Weltkrieg eine schwere Kriegsverletzung zugezogen hatte, war er in den Polizeidienst eingetreten. Bei seinem Tod war er 36 Jahre alt und hinterließ seine Ehefrau mit 3 Töchtern im Alter von 6 und 11 Jahren sowie 3 Monaten. Da Fischer nur wenige Jahre im Polizeidienst gestanden hatte, erhielt die Witwe eine äußerst geringe Rente und war auf Unterstützung durch ihre Geschwister angewiesen. Ein Bruder begann eine Lehre als Schmied auf der Zeche Lohberg, zog zu ihr und kümmerte sich über Jahre um die Familie.
Die schrecklichen Ereignisse überschatteten die Jugend der Töchter Fischers. Die damals sechsjährige Tochter Gertrud erinnert sich: "Wir haben in unserer Jugend schrecklich unter den Geschehnissen gelitten. Unsere Mutter hielt durch ständiges Erzählen von unserem Vater die Erinnerung an ihn in uns wach. Außerdem war sie immer in Sorge, daß uns in dem aufgewühlten Umfeld etwas passieren könnte. Wir durften nur in Sichtweite der Wohnung spielen." Aufgrund der finanziellen Misere konnten die Töchter nicht, wie ursprünglich von den Eltern geplant, die höhere Schule besuchen. Sie absolvierten Lehren als Verkäuferin bzw. Köchin und waren gezwungen, früh zum Familieneinkommen beizutragen.
Heute denkt die Tochter mit Abstand und weniger Bitterkeit an die Ereignisse des Jahres 1923 zurück. Sie hat Verständnis für den Sturm der notleidenden Bevölkerung auf die Zeche zur Kohlenentnahme, aber keine Entschuldigung für die Morde.
Milde Strafen
Wegen Beteiligung an der Ermordung der beiden Polizeibeamten hatten sich 6 Bergleute aus Lohberg vor dem Schwurgericht in Duisburg zu verantworten. Vier von ihnen wurden in der Schwurgerichtsverhandlung am 28. 4. 1924 wegen schweren Landfriedensbruchs zu Haftstrafen zwischen 6 und 28 Monaten verurteilt, 2 Bergleute erhielten wegen leichten Landfriedensbruchs Haftstrafen von 4 bzw. 6 Monaten. Die zunächst vom Staatsanwalt erhobene Anklage auf Totschlag wurde während der Verhandlung fallengelassen, da sich ein großer Teil der Angeklagten an der Verfolgung der Polizeibeamten beteiligt hatte. Nach Meinung des Gerichts war keinem der Angeklagten ein Totschlag nachzuweisen, weil die Sachverständigen übereinstimmend ausgesagt hatten, daß schon der erste Schlag auf den Schädel tödlich gewesen sei. Wer aber den ersten Schlag geführt habe, so das Gericht, stehe nicht fest. (42) Einer Zeugenaussage zufolge war der Beamte Fischer jedoch nicht sofort tot. Dieser Zeuge will beobachtet haben, daß es Fischer gelang, sich aus dem Wassergraben, in den man ihn geworfen hatte, noch einmal herauszubewegen. Am Rande des Grabens sei er dann vollends totgeschlagen worden. (43)
Als strafmildernd wirkte vor allem die große Not, in der sich die Angeklagten befunden hatten. Der Verteidiger führte dazu aus, daß nicht der Haß auf die Polizei die Triebfeder zu den Unruhen gewesen sei, sondern allein die Verelendung der Massen. (44) Der zweite Verteidiger verstieg sich zu der Erklärung, daß es in Deutschland keinen Ort gebe, "wo die Häßlichkeit des Lebens so groß und die Sklaverei der Arbeit so stark ausgeprägt sei wie in Lohberg.” (45)
Strafmildernd wirkte ferner die Tatsache, daß 4 der Angeklagten nicht vorbestraft waren. Einer der Haupttäter war wegen Sittlichkeitsverbrechens vorbestraft, einer der wegen leichten Landfriedensbruchs Verurteilten hatte eine Vorstrafe wegen Diebstahls. (46)
Weitere an der Ermordung der Polizeibeamten beteiligte Personen wurden mit Hilfe der KPD dem Zugriff der Justiz entzogen. Sie wurden jeweils für 5 bis 8 Tage in besonders parteitreuen Familien in verschiedenen Städten untergebracht und dann weitergereicht, zum Teil mit von der KPD besorgten falschen Papieren. (47)
Rückkehr zur Normalität
Allmählich gewannen in Lohberg, wie Pfarrer SCHMIDT es ausdrückt, "die älteren und vernünftigeren Elemente unter der Arbeiterschaft ... größeren Einfluß, und das Maulheldentum der jungen Hitzköpfe wurde immer mehr zurückgedrängt.” (48)
Vermutlich trug zur Beruhigung in Lohberg und Umgebung wesentlich bei, daß der von der KPD für Ende 1923 anvisierte "Deutsche Oktober" nicht zustande kam, weil u.a. die kommunistischen Hundertschaften durch den Preußischen Innenminister verboten worden waren. (49)
In der zuvor erwähnten Stadtverordnetenversammlung der Stadt Dinslaken vom 22. 11. 1923 gedachte der Vorsitzende der Unruhen und der 3 Toten. Den 8. 11. 1923 bezeichnete er "als schwarzen Tag in der Geschichte der Stadt Dinslaken". (50) Er bat, "allseitig dazu beizutragen, daß sich solches nicht wiederholt, Duldsamkeit gegenüber den Mitmenschen geübt werde und man sich nur mit geistigen Waffen bekämpfen möge." (51) Zu Ehren der Verstorbenen erhoben sich die Anwesenden von ihren Sitzen.
Am 13. Januar 1924 wurde der Betrieb auf der Schachtanlage Lohberg wieder aufgenommen. (52)
Anmerkungen
Quellen
Diese Webseite wurde mit Jimdo erstellt! Jetzt kostenlos registrieren auf https://de.jimdo.com